Beschäftigt man sich mit diesem Weingut, denkt man besser groß. Das neue Hauptgebäude, 2017 bezogen, erinnert an Logistikzentralen oder Unterstände für Tornado-Jagdbomber. Aus 31 ha Anbaufläche mit dem Pfälzer Standard und der ein oder anderen Überraschung gewinnt man sage und schreibe über 70 Positionen auf der Weinliste zuzüglich bubbles und einiger entalkoholisierter Getränke. Das Programm ist nicht etwa in eine Qualitätspyramide gegliedert, sondern man muss eine Matrix durchdringen, um es zu verstehen. Kundenservice und -beratung: so perfekt, wie man es von Großbetrieben erwartet und meistens bekommt. Die Weine, nun… siehe unten.

Weiß und Rosé...

Mit Müller-Thurgau zu beginnen, um den Stil eines Weinguts kennenzulernen, ist immer eine gute Idee: kurze Standzeit, Edelstahlausbau, reine Primärfrucht, kein Holzeinfluss und Brimborium, da läßt sich wenig kaschieren. Netts 2021 Müller-Thurgau "Müller - Mayer -Schmidt ist in Charakter und Aromatik ziemlich das Gegenteil der strengen Franken wie wir sie in unserer Hitliste loben: dort der erdverbundene Boskop, säuerlich, fest, robust, erfrischend, hier Muskatwürze, weißblütenduftige Seligkeit, gelbfruchtige Süße mit dem touch Cabernet blanc. Saftig, schmelzig, und vor Ort gerne auch als "Schorle" genossen, was wir für ein Sakrileg halten, was aber irgendwie von lokalpatriotischer Bedeutung zu sein scheint. Wie so oft bei modernem Müller-Thurgau qualitative Spitzenklasse zum Schleuderpreis.

Wir setzten bei Ringle-Roth den Abgesang auf eine aussterbende Sorte fort, stellten dort jedoch fest, daß immer wieder Überraschungen auftauchen - hier kommt gleich eine große: 2018 Kerner trocken aus der "Tradition"-Serie (auf deren Flaschen die schönen alten Etiketten überleben). Süß natürlich, sehr süß sogar, ein vollmundiger Sattmacher, unbändig kraftvoll, das heißt, um passende Begleiter braucht man sich keine Sorgen zu machen. Süßes Apfelfleisch, Fenchel mit seiner bittersüßen Note. Im Frühsommer 2025 eindrucksvoll gereift - wie ein hochwertiger, nicht mehr ganz junger Riesling mit seinen gelben Früchten, den Honig- und Paraffin-Noten. Ständig animierende Schleifpapiersäure sorgt für Schmelz, Schwund und garantierte Diskussionen um die letzten drei Zentimeter in der Flasche. Das alles - wie bei dem Müller-Thurgau - zu einem Preis, der die Wertschätzung der Sorte widerspiegelt: Richtung Nullpunkt.

Mit der 2022 Scheurebe trocken könnte man in der Reihe unterschätzter Rebsorten fortfahren. Nett hat hier den Mut, auf schmalem Grat von vorsichtiger Süße und "gerade so" trockenem Ausbau zu balancieren. Es entsteht ein durchaus ungewöhnlicher Wein dieser Sorte mit ihrer spannenden Geschichte: stahlausgebaut, primärfruchtig mit Ananas, dem schweren, nur hintergründig süßen Akzent der Zitronenblüte, außerdem satter grüner Pyrazinaromatik. Fest mit gut eingebundener Säure, frischer und erfrischender Appetitmacher, schon nicht mehr ganz so federleicht und robust gegenüber frühlingshaften Vorspeisen und Hauptgerichten oder der westasiatischen Küche. Noch mehr kam uns in den Sinn, aber mangels Johannisbeerlikör konnten wir seine Eignung für Kir nicht prüfen, und Aligoté zum Vergleich hatten wir auch nicht, fällt also aus für den Moment.

Zudem gibt es einen bemerkenswerten Muskateller, der unseren Favoriten vom Kaiserstuhl mächtig Konkurrenz macht. Im Duft Waldhonig, Muskatwürze, getrocknete Feige, im Mund Rosenblätter, frisch, stark, voll und füllig. Für einen Terrassen- geschweige Vormittagswein scheint er zu mächtig, braucht deshalb starke Begleiter aus der west- oder ostasiatischen Küche und hält dabei einiges an Kokosmilch, Ingwer, Zitronengras und Scoville aus. Als Solist enttäuscht er ebenfalls nicht.

Einen Ausflug an die Loire machen wir mit dem 2021 Cabernet franc Rosé. Im Duft frische Erdbeere, schwarze Johannisbeere, weichgekochte rote Paprika. Im Mund mit gewisser Süße, aber zweifellos auf der trockenen Seite, und den stahligen Akzent vieler Loire-Weine hat er auch nicht. Robust, würzig, das sind seine Attribute. In der Aromatik rote Früchte, bittere, italienische Küchenkräuter, Brennnessel. Heißer, kraftvoller Nachhall, sehr lang und an Sauvignon (oder Cabernet) blanc erinnernd - dann sind wir ja doch in Mittelfrankreich gelandet. Kühl genossen ist er zuverlässiger Begleiter zu Sommersalaten, Quiche, überbackenen Aufläufen, allem, was aus Käse und Gemüse gezaubert werden kann. Als bloßer Alleinunterhalter spielt er seine Karten kaum aus.

Eine der zahlreichen Produktlinien im Programm: "Concept"-Weine (oder heißt es "Markenweine" oder "Sport-Weine"?), darin neben einigen Roten, der 2021 Chardonnay trocken „Surfing“, ein fester, saftiger Chardonnay mit klarem Müller-Thurgau-Anteil, dessen Würze und sympathisch süßem Einschlag. Schönes Etikett mit Sandstrand, blauem Himmel, Meereslinie am Horizont, vorne der Bully samt Surfbrett auf dem Dach, aus dem Transistor trällern die "Beach Boys", die Manson family weit weg: der "summer of love" in voller Blüte. Zu frisch getrunken hat der Wein kaum Anspruch. Erst nach einigen Tagen Luftkontakt und energischer Kühlung gibt er seine Facetten und den strahlend gelbfruchtigen Nachhall preis und macht dann viel Spaß. Unverstellt, vergnüglich und nicht zu zart für die Strandparty oder jede andere Geselligkeit.

Surfing bringt zwangsläufig Swimming mit sich, hier also der knallrote 2022 Rosé "Swimming" trocken aus Dornfelder, Cabernet Cubin und Cabernet Franc. Wie es sich für deutschen Rosé gehört, üblich erdbeerfruchtig, auch etwas Himbeere, glücklicherweise aber nicht üblich süß, sondern transparent, erfrischend, aromatisch blitzsauber. Feine Säure schafft Volumen, alles mit einem Schuß Pyrazin, sprich grünem Gras oder Paprika - Cabernet oder Sauvignon blanc werden also mitschwimmen. Willkommener Begleiter warmer Sommerabende mit mediterraner Küche.

Dennoch ist der "Surfing" unser Favorit unter den "Sport-Weinen" und auch der uns etwas zu süßen und dichtgepackten Cuvee 2021 Weißweinvuvee "Hiking" vorzuziehen. Die entsteht aus aus Müller-Thurgau, Kerner, Gewürztraminer und Silvaner - "kann weitere Rebsorten enthalten" - heißt es bei den Netts, und wir vermuten auch hier einen kräftigen Schluck Cabernet blanc oder Sauvignon blanc.

Rot...

Aus derselben Linie wie "Surfing" kommen weitere Tropfen, die teils noch bemerkenswerter ausfallen: 2019 „Biking - Leib und Seele“ Rotwein Feinherb aus Dornfelder, Cabernet Sauvignon, Merlot, und es mögen sich weitere darin versammeln - so gesellt sich mit dem Jahrgang 2020 Lagrein hinzu - samtig weich, kirschfruchtig, Camembert, etwas Kräuter, schokoladig süß und Orange im Nachhall. Trotzdem hat man keine überalkoholisiert dicke Marmelade in Glas, womöglich mit Holznoten überladen, sondern der Wein wirkt lebhaft, klar, strukturiert, und er bereitet trotz gewisser aromatischer Eindimensionalität unkomplizierten Trinkspaß, wenn er kühl temperiert ist. Großen Unterschied zum 2021 Pinot Noir „Skiing“ konnten wir nicht ausmachen, stellten aber fest, daß der Spaß darunter keinesfalls leidet: man schafft am selben Abend ganz problemlos beide. Nebenbei macht die gesamte Serie mit ihrer beeindruckend schönen Gestaltung klar, wie wichtig professionelles Etikettendesign - Nett beauftragte dafür eigens eine Werbeagentur, und nicht die schlechteste - für modernes Produktmarketing ist: man schaut gerne hin, und dann greift man zu. Mission erfüllt.

Um in dem Dickicht von Produktlinien nicht paranoid zu werden, kommentieren wir den 2020 Paranoia ganz nüchtern, sofern das bei diesem stahlausgebauten Pinot Noir möglich ist: üblich kirsch- und walderdbeerfruchtig, gebrannter Zucker, insgesamt warme Aromatik, stark, blitzsauber trotz seines Alkoholgehalts, und ohne jede kellertechnische Verrenkung - wie kommt dieser Name zustande. Die Wahl für Leute, die einen robusten und durchaus kompakten Pinot wünschen, den sie auch an einem milden Sommerabend genießen können, wo schwere Tertiäraromen nur stören würden.

Uns interessanter scheinen jedoch die schwereren Weine aus internationalen, eher wärmeliebenden Sorten. Zum Beispiel der tiefdunkle 2022 Lagrein trocken aus der "Avantgarde"-Linie: Südtiroler Gast und gelungenes Beispiel für die zunehmende Sortenvielfalt der roten Pfälzer Weinwelt abseits von Dornfelder und Portugieser. Tintiger Duft, durchdringend süße Brombeere, Lakritz, ein Löffel Pflaumenmus mit Zimt, nach einiger Zeit glimmende Holzkohle eines Kaminfeuers. Sehr vollmundig, saftig und absolut trocken. Schwarzfruchtig mit eher herben als süßen Beeren, sortentypisch bitterer, erdiger und kräuteriger Nachhall mit guter Länge. Ein Essensbegleiter und weniger der Solist am Ende des Abends. Wir sind gespannt, wann zum Beispiel Teroldego sich bei den Netts blicken läßt.

Merlot ist nämlich auch schon da: 2022 Merlot trocken „Edition“. Im Duft die erwartete reife Pflaume, außerdem Schwarzkirsche, eingelegte rote Paprika, orientalische Gewürze, Nougat, pures süßes Lübecker Marzipan. Im Mund weich, kompakt, schon in seiner Jugend sehr harmonisch und rund. Reiche Aromatik, befördert von rund 14 Vol-%, einem großen Glas und etwas Kühlung: blauschwarze Früchte - natürlich Pflaume, rote Paprikaschote, vielleicht eine mineralische Note von Schiefer. Besondere Noten aus dem Holzausbau entdeckten wir nicht, aber Körper und bodenlose Tiefe hat der Wein. Im langen, trockenen Nachhall kommen Kirschfrucht, Vanille und ein duftiges, mediterranes Kräuterbeet zum Vorschein. Ein delikater Solist im Gegensatz zum Lagrein.

Und auch Shiraz ist da: 2022 Shiraz trocken „Avantgarde“ und 2025 schon zu bekommen, trotz monate-, nein: jahrelangen Ausbaus im Barrique und Edelstahl. Flirrender Duft: Rauch, Veilchen, vielleicht Liebstöckel, feuchte Erde, alles für fortgeschrittene Nasen sozusagen. Im Mund supertrocken, stark, würzig, vollmundig, mit der Zeit und etwas Kühlung weicher werdend, die erwarteten Brombeere, Pflaume, schwarzer Pfeffer, dunkle Schokolade - nichts in der Aromatik fehlt, was die Sorte so begehrenswert macht, und alles mit animierend leicht süßerem Grundton. Ein kompakter, vielleicht mollig-warmer und keinesfalls leichter Winterwein.

Apropos Sortenvielfalt: Primitivo

Altbekannte Sorte, wohl kroatischen Ursprungs wie auch sein enger Verwandter Zinfandel. Während jener Mitte des 19. Jahrhunderts nach Übersee auswandert, macht sich Primitivo in Süditalien breit, jedoch erleiden beide Sorten dasselbe Schicksal: Zinfandel wird zum Opfer kalifornischer Massenabfüller, Primitivo zum festen Bestandteil von Supermarktsortimenten, zum Billigstoff, den man sich wie Frascati oder Lambrusco unter südlicher Sonne schöntrinken muß. Hinzu kommt der unter Werbegesichtspunkten katastrophale Name, passend zu drittverwertetem "Wein" aus dem Tetrapak. Seriöse Winzer bemühen sich einigermaßen verzweifelt zu erklären, daß der Name auf die frühe Reifung der Sorte hinweist und auf nichts sonst. Und die Netts...

...stellen mit dem 2022 Primitivo trocken „Reserve“ eine Neuigkeit nicht nur im eigenen Sortiment, sondern auch in der Region vor, und denken vielleicht voraus, wenn sie eine neue, wärmeliebende Sorte anbauen. Im Duft (über-)reife rote Früchte, Graphit, Gummi, später dunkle Schokolade, auch Veilchen und etwas pfeffrig. Im Mund ist das erste Adjektiv, das uns in den Sinn kommt: „Kuschelig“. Seidig, saftig, süß, rotfruchtig und floral. Dann knochentrocken, kraftvoll, doch sehr harmonisch, ewig langer Nachhall. Wer die Möglichkeit hat, sollte mit Gläsern experimentieren. In Riedels „Veritas“ völlig in Ordnung, wenn auch kaum spektakulär, zauberte erst Josephine No. 3 das volle süßfruchtige Potpourri hervor, mit dem zwei sehr gute apulische Vergleichskandidaten nicht mithalten konnten. Aber natürlich spielt Nett mit Zucker- und Alkoholgehalten, also hatten wir womöglich ein "Judgement of Paris"-Erlebnis. Auch ihn sehen wir als Solisten. Nie und nimmer würden wir ihn zu "Pasta bis Pizza" verschwenden.

Unser Favorit bei den Roten ist jedoch der 2019 "Rebarrique" Spätburgunder trocken aus der Linie "Concept-Specials". Ja, wieder eine Linie... Man steckt seine Nase zunächst in einen Rumtopf: Sauerkirsche, Brombeere, reife Pflaume, später Zwetschgenkuchen, Cassis, etwas Zimt und Alkohol satt. Im Mund überraschend süß, mild und dank zarter Tannine und perfekt eingewobener Säure differenzierter als es der Rumtopf vermuten ließ. Perfekt eingewobene Barrique-Akzente, und der Begriff "Rebarrique" verweist auf den Ausbau in seltsam kubischen, wiederverwendbaren Barriques, die im Metallkorsett stecken. Im Spätherbst 2022 scheint uns der junge Wein unmittelbar zugänglich, aber er schenkt doch die Ahnung, daß mehr in ihm steckt: wenn man ihm einige Jahre Zeit gibt, wird die Primärfrucht herbstlichen und sogar dunkleren Tönen weichen und ihn noch interessanter machen. Wer es aushält, wartet.